12. März 2021
Föhr abseits der ausgetretenen Pfade: Sprechende Steine
17. und 18. Jahrhundert, die glorreiche Zeit der Seefahrer. Rot leuchtet der Backstein der Reetdachhäuser und die Bäume herbstlich bunt. An der Südküste der Insel Föhr zupft der Wind letzte Rosenblüten, hinter den Dünen liegt der Strand, der Blick reicht über das blau-türkise Wasser bis zu den Halligen. Hinter Goting führt der Radweg über´s Land. Über der Niederung der Godel, dort wo der Bach in die See mündet, tanzen Vogelschwärme, der Wind trägt ihre Rufe vorüber, es ist wild und weit. Der Gesang der Feldlerche ist zu hören. Bäume stehen am Weg, die als sogenannte Windflüchter bizarr verbogen sind. Im Nordwesten ist die Silhouette der Borgsumer Mühle zu erkennen.
Es geht in den Inselwesten. Der Weg führt auf den Friedhof von St. Laurentii nach Süderende. Das Gotteshaus ist 900 Jahre alt und liegt abseits der Dörfer im Westen der Insel Föhr. Alte, teils verwitterte, Grabsteine stehen auf dem Friedhof, es ist eine einsame und morbide Atmosphäre. Doch der Kirchhof von St. Laurentii ist mehr als eine Begräbnisstätte, er ist auch ein Ort der Geschichten. Denn die Steine sprechen, erzählen vom Abenteuer im Eismeer und der Fahrt nach Ost-Indien. Von der Zeit des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, als Walfang und Handelsfahrt Wohlstand auf die Insel brachten. Viele Kapitäne wurden reich und ließen einen „Sprechenden Grabstein“ anfertigen.
Der Friedhof liegt in spätherbstlicher Melancholie, doch wenn das tiefe Licht auf die Bilder und Buchstaben fällt, dann bekommen sie Kontur und beginnen zu erzählen. Segelschiffe sind darauf zu erkennen und, wer es lesen kann, Lebensgeschichten. An der Kirchenmauer steht der Grabstein von Ketel Harken. Der Stein ist bekrönt von einem Falter, dem Symbol für die unsterbliche Seele. Am unteren Bildrand ist mit dem Anker und einer darauf liegenden Bibel der bildhafte Bezug zur Seefahrt zu erkennen; sie symbolisieren die Hoffnung und den Glauben.
Kirchenführer berichten von der Geschichte Harkens: mit 13 Jahren war er zum Matrosen aufgestiegen und fuhr zum Wal- und Robbenfang in den arktischen Ozean. Sieben Jahre später ging es, er fuhr bereits als Steuermann, auf einem Handelsschiff nach Island und Bilbao. Dann arbeitete er als Harpunier und Speckschneider auf einigen erfolgreichen Walfahrten - bis nach Grönland, wo das Schiff von Eismassen zerdrückt wurde. Auf irren Wegen über Island und Eiderstedt kehrte Harken schließlich zurück nach Föhr. Nur eine Geschichte, und ein Grabstein, von vielen. Auch auf dem Friedhof von Nieblum „sprechen“ Steine.
Beitragsbild: Ein alter Grabstein an der Kirche St. Laurentii auf Föhr. Photo Credit: Hergen Schimpf - Föhr Tourismus GmbH